Gradientenfaktoren – Feinjustierung der Dekompression
Beim Sport- und vor allem beim technischen Tauchen stoßen viele Taucher früher oder später auf einen Begriff, der zunächst kompliziert klingt, aber in Wirklichkeit ein mächtiges Werkzeug zur Erhöhung der Tauchsicherheit ist: Gradientenfaktoren (Gradient Factors).
Sie tauchen in modernen Tauchcomputern und Planungssoftware auf und ermöglichen es, den Bühlmann-Dekompressionsalgorithmus individuell auf die eigenen Bedürfnisse und Risikoprofile anzupassen. In diesem Artikel erkläre ich dir verständlich, was Gradient Factors sind, wie sie funktionieren, was gängige Einstellungen bedeuten und wie du sie sinnvoll nutzt.
Was sind Gradientenfaktoren überhaupt?
Gradientenfaktoren sind zwei Zahlenwerte, die den Bühlmann-Dekompressionsalgorithmus konservativer oder aggressiver machen. Sie beeinflussen, wann der erste Dekompressionsstopp beginnt und wie tief der letzte Aufstieg erfolgt.
Diese zwei Werte heißen:
- GF Low (z. B. 30)
- GF High (z. B. 85)
Zusammen geschrieben meist als: GF 30/85
Das Ziel der Gradientenfaktoren ist es, die maximal zulässigen Druckunterschiede (die sogenannten M-Werte) zwischen dem Gewebe und der Umgebung zu reduzieren, um das Risiko einer Dekompressionskrankheit (DCS) zu verringern.
Ein kurzer Rückblick: Der Bühlmann-Algorithmus
Der von Prof. Dr. Albert A. Bühlmann entwickelte Algorithmus berechnet, wie viel Inertgas (Stickstoff oder Helium) sich in verschiedenen Körpergeweben löst und wie es bei einem Aufstieg wieder abgegeben wird. Jedes Gewebe hat ein Limit – den M-Wert –, bis zu dem ein Druckunterschied noch toleriert wird, ohne dass Gasblasen entstehen.
Problem: Die originalen M-Werte sind relativ aggressiv ausgelegt – was zwar effizient ist, aber nicht immer ideal für die Sicherheit. Hier kommen die Gradientenfaktoren ins Spiel.
Wie funktionieren Gradient Factors konkret?
Gradientenfaktoren legen fest, wie nah man sich an diese M-Werte heranwagt – und zwar in zwei Bereichen des Aufstiegs:
- GF Low: Beeinflusst den Beginn der Dekompression. Ein niedriger Wert bedeutet, dass der erste Dekompressionsstopp früher und tiefer erfolgt.
- GF High: Beeinflusst das Ende der Dekompression, also wie „nah“ man am theoretischen M-Wert an der Oberfläche ist.
Beispiel:
GF 30/85
→ Der erste Stopp beginnt bei 30 % des maximalen erlaubten Druckunterschieds.
→ Die Oberfläche wird bei maximal 85 % des M-Werts erreicht.
Je niedriger die Werte, desto konservativer (also vorsichtiger) ist die Dekompression.
Was bedeuten typische Einstellungen in der Praxis?
Einstellung | Interpretation | Für wen geeignet? |
---|---|---|
GF 30/85 | Konservativ, standardmäßig empfohlen | Sporttaucher, Wracktaucher, Kaltwasser |
GF 50/85 | Weniger konservativ am Anfang | Fortgeschrittene Taucher |
GF 70/85 | Kürzere Stopps, aggressiver | Erfahrene Tec-Taucher, bei guter Fitness |
GF 95/95 | Extrem aggressiv (nicht empfohlen) | Nur für Notfälle (z. B. Rettungsaufstieg) |
Wichtig: Diese Einstellungen sollten bewusst gewählt werden – je nach:
- Tauchprofil
- Fitnesszustand
- Wassertemperatur
- Ausrüstung (z. B. Scooter, Kreislaufgerät)
- Umgebung (z. B. Deko-Glocke, Rettungsmöglichkeiten)
Ein praktisches Beispiel
Stell dir zwei Taucher vor, die denselben Tauchgang machen (30 m, 30 Minuten, mit Luft):
- Taucher A nutzt GF 95/95:
→ Späterer erster Stopp, weniger Gesamtdauer bei der Deko.
→ Höheres Risiko, aber kürzere Gesamtzeit. - Taucher B nutzt GF 30/85:
→ Früherer erster Stopp, mehr Zeit bei der Deko, aber langsamerer Druckausgleich.
→ Geringeres Risiko, bessere Blasenvermeidung.
Ergebnis: Taucher B hat das niedrigere Risiko für DCS, aber verbringt mehr Zeit bei der Aufstiegsphase.
Wann solltest du konservative Gradient Factors wählen?
✅ Bei Kälte
✅ Nach körperlicher Anstrengung
✅ Bei hoher Tauchfrequenz (z. B. Liveaboards)
✅ Bei vorherigen Deko-Problemen
✅ Bei Nutzung von Gasgemischen (Trimix, Nitrox)
Fehler, die du vermeiden solltest
❌ Blindes Übernehmen von Einstellungen aus Foren oder YouTube
→ Was für andere funktioniert, ist nicht automatisch gut für dich.
❌ Ignorieren von Körperreaktionen
→ Müdigkeit, Schwindel oder Gelenkschmerzen nach dem Tauchen können auf Mikroblasen hindeuten – evtl. ist dein GF zu aggressiv.
❌ Zu schnelle Aufstiege zwischen den Stopps
→ Auch mit konservativen Faktoren kann ein zu schneller Aufstieg DCS verursachen.
Fazit: Deine persönliche Sicherheitsbremse
Gradientenfaktoren sind ein leistungsstarkes Werkzeug, um deine Tauchgänge sicherer, planbarer und individueller zu gestalten. Sie ermöglichen dir, den bewährten Bühlmann-Algorithmus an deine eigenen Voraussetzungen anzupassen – und das mit nur zwei Zahlen.
Mein Rat als Tauchlehrer:
Wenn du mit einem Tauchcomputer tauchst, der Gradient Factors erlaubt, dann nutze diese Möglichkeit – aber tue es bewusst.
Lerne, was hinter den Zahlen steckt, und finde das richtige Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Effizienz.
Tipp: Du bist dir unsicher, welche GF-Einstellung zu dir passt? Sprich mit einem erfahrenen Tauchlehrer oder technischer Tauchbasis – oder nutze Tauchplanungssoftware wie Subsurface oder Multideco, um verschiedene Szenarien durchzuspielen.
Tauche smart – rechne mit Köpfchen – und halte deine Blasen im Griff!